Italien
Amalfiküste: Mit Göttern unterwegs
Erst abseits der wunderschönen und supertouristischen Orte Positano und Amalfi zeigt Italiens grossartigste Steilküste ihre erhabenen Seiten.
Von Gabriella Vitiello
«Wir zählen die Stufen einfach nie.» Wie die meisten Bewohner der Costiera Amalfitana nimmt Fremdenführer Maurizio die endlosen Steintreppen gelassen, die von der Küste in die Bergwelt führen. Wir haben den Sentiero degli Dei - den ebenfalls aus Treppen bestehenden Götterweg - beinahe erreicht. Maurizios Treppenphilosophie überzeugt, sobald man einen Blick aufs Meer wirft. Jeder Gedanke an die Beinmuskeln ist vergessen. Steil stürzt das zerklüftete Kalkmassiv der Monti Lattari ins Meer hinab. Die Felsformationen, die der spektakulärsten Steilküste Italiens ihr Aussehen geben, sind zugleich ihr stiller Protagonist, jenseits der überfüllten Gassen von Positano und Amalfi. Wie Fabelwesen aus mythischen Zeiten schlängeln sich die Bergausläufer Richtung Capri über das azurblaue Wasser.
Von oben sieht es aus wie einst
Aus der Höhe des Götterweges betrachtet, sieht auch Positano aus, als stünde die Zeit still. Die hellen Häuserkuben gleiten die Talmulde bis zur Spiaggia Grande hinab. Gegen Abend stellen dort lokale Künstler ihre Staffeleien zum pittoresken Schau-Malen auf, um mit dem Pinsel noch einmal die mondäne Sommerfrische heraufzubeschwören, die besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zahllose Schriftsteller, Schauspieler und Maler aus aller Welt anlockte. Schöne und Reiche kommen immer noch nach Positano und zum Unesco-Weltkulturerbe Costiera, aber auch Scharen von Blitzbesuchern und Busreisenden. Von den Fahrzeugen aus geht es, hin und zurück, durch die enge Via dei Mulini. Kaum ein Kurzurlauber wirft einen Blick auf die harmonische Piazzetta vor der Kirche Santa Maria Assunta, die der Arte-Povera-Künstler Mimmo Paladino mit Boden- und Wandmosaiken neu gestaltet hat. Unter der Kirche legen Archäologen derzeit eine römische Meeresvilla frei, die unter vesuvianischem Ascheregen verschüttet worden ist.
Die Landschaft ist noch da
Der Schriftsteller Cesare Pavese sagte einmal, eine Landschaft vom Auto aus zu betrachten sei wie ein Glas Wasser trinken. Wer hingegen zu Fuss unterwegs sei, falle direkt ins Wasser hinein. Das Lattari- Gebirge mit seinen bis zu 1400 Meter hohen Gipfeln ist der ideale Ort für ein solches Rundum-Landschaftserlebnis. Unzählige Eselspfade und Wirtschaftswege durchziehen Hänge und Taleinschnitte. Sie wurden gleichmässig benutzt, bis Bourbonenkönig Ferdinand II. im 19. Jahrhundert eine Küstenstrasse anlegen liess - zunächst für Karren und Kutschen. Der Ausbau zur Autostrasse nach dem Zweiten Weltkrieg hat den Verkehr konzentriert und das Wegnetz vergessen lassen.
Doch der Sentiero degli Dei, der panoramareichste der alten Wege, existiert noch. Er verbindet Bomerano mit Positano. Besonders reizvoll ist die Teilstrecke ab Praiano, zumal der Aufstieg am mittelalterlichen Kloster San Domenico vorbeiführt. Einige Bauern pflegen dort ihre terrassierten Zitronenhaine, Reben und Gemüsebeete noch heute. Manche nutzen abgelegene Grotten als Weinkeller und Lagerräume oder bereiten dort Pane biscotto zu, ein zweifach gebackenes Brot, das mit Fenchelsamen gewürzt wird.
Auf fünfhundert Meter Höhe hat niemand mehr Zweifel daran, dass der Weg der Götter seinen Namen zu Recht trägt. Zwischen Himmel und Meer schwebt er gleichsam über der Küste. «Die Legende erzählt, dass die Götter über diesen Weg ans Meer zu den Sirenen hinunterstiegen, die mit ihrem Gesang den vorbeifahrenden Odysseus und seine Seeleute verzaubern wollten», erklärt Maurizio, der schon als Kind die Monti Lattari durchstreifte. Zur Mythenbildung trug auch der amerikanische Schriftsteller und Positano-Fan John Steinbeck bei: Wenn ein Mensch der Costiera Amalfitana sterbe, schrieb er, sei es ein Tag wie jeder andere, denn er habe bereits im Paradies gelebt.
Nackte Männchen im Paradies
Es duftet nach Ginster, Myrte und Rosmarin, nach Thymian, Borretsch und Wermut. Spargel, Erbsen und Knoblauch sind mit wild wachsenden Varianten vertreten. «Omini nudi» säumen den Weg. Weil die in Spitzen auslaufenden Blütenblätter der Orchis tridentata aus der Nähe wie kleine nackte Männchen aussehen, bekam diese Orchideenart einen so anschaulichen Namen. Im Valle delle Ferriere, dem romantischen Tal hinter Amalfi mit seinen verfallenen Papiermühlen, Eisenhütten-Ruinen und Wasserfällen, findet man sogar eine äusserst seltene Farnart. «Die Woodwardia radicans gab es bereits vor der Eiszeit. Sie benötigt ein tropisches Mikroklima, das sie in dem Naturschutzgebiet bei Amalfi findet», weiss Maurizio.
Einige Treppenwege enden nicht inmitten üppiger Vegetation, sondern in einsamen Buchten. Wer an der Westspitze der Monti Lattari zwischen Olivenhainen und wilden Feigen in die traumhafte Baia di Jeranto hinabsteigt, hat in dem Meeresschutzgebiet den Kiesstrand mit Blick auf Capri meistens für sich allein.
«Wir haben Glück gehabt - Meer und Berge vereinen sich an der Costiera», sagt Maurizio, als der letzte Abschnitt des Sentiero degli Dei beginnt. Der Weg führt durch das winzige Nocelle, das erst 2001 eine Strassenanbindung erhielt, weiter nach Montepertuso. Jahrhundertelang flüchteten sich die Positanesi vor Piratenangriffen in diesen Bergort. Sein Kennzeichen ist ein rares Naturphänomen: in der hervorspringenden Felswand klafft ein riesiges Loch, das die Madonna im Kampf mit dem Teufel in den Berg geschlagen haben soll. Bis Positano sind es jetzt nur noch 1000 Stufen.
[28.06.2005] |